Aktuell *Ost Über Uns Archiv Impressum English




Vera Chytilová war eine der Ersten, die gleich nach der Samtenen Revolution in Prag dafür kämpfte, die staatlichen Institutionen im Filmbereich nicht aus ihrer Verantwortung zu entlassen. Es war nicht zufällig sie, die mit frechen Filmen („Tausendschönchen“) in den sechziger Jahren Parteibürokratie und Patriarchat provoziert hatte und dafür in den Siebzigern mit Berufs- und Ausreiseverbot bestraft wurde. Sie erkannte frühzeitig, dass der schöne, neue, freie Markt auch seine eigenen Interessen hat, die vieles verhindern können. Es sollte Jahre dauern, bis sie verstanden wurde... Von Otto Reiter.

Vom Kommunismus zum Konsumismus

Wie es derzeit der Filmszene in Tschechien ergeht.

„New film companies sprang up like mushrooms after a warm rain – and collapsed just as quickly“, kommentiert Jana Èerník, Geschäftsführerin des Prager Czech Film Center (existiert erst seit September 2002), die Situation Anfang der neunzigerJahre.
1991 wurden 28 Spielfilme produziert, im folgenden Jahr nur mehr 8, mittlerweile sind es durchschnittlich 15. Gleichzeitig explodierten die Produktionskosten für einen Spielfilm von 160.000 Dollar (1989) auf 650.000 Dollar.

Auch wenn sich die tschechischen Regisseure im Verhältnis zu anderen Ländern nicht über mangelndes Publikumsinteresse beklagen können, haben sich doch die Lebens- und Freizeitgewohnheiten empfindlich geändert. Die Tschechen lieben ihr Kino, wie es die Franzosen tun, aber 4,5 Millionen Zuschauer wie noch in den achtziger Jahren für Jiøí Menzels „My Sweet Little Village“ wird es nie wieder geben. Einer der jüngsten großen Erfolge, Jan Hrebejks „Pelisky“, erreichte in nur drei Monaten 400.000. Mehr als beachtlich in einem Zehn-Millionen-Land. Viele österreichische Filme locken in einem geringfügig kleineren Land nicht mehr als 5.000 Zuschauer ins Kino.

Ähnlich dem ORF macht sich aber immer mehr der Einfluss von unsachverständigen Fernsehredakteuren bemerkbar. So lautet eine Werbeschlagzeile des staatlichen tschechischen Fernsehens: „Sicher können auch Filme ohne uns gedreht werden, aber niemand wird sie sehen.“ Nicht weniger als eine gefährliche Drohung aus dunklen Zeiten.
Dabei sind der vorauseilende Gehorsam und das zu Selbstzensur führende Gefallsuchtdenken ohnehin schon viel zu weit gediehen. „Pelisky“ zeigt die Ära des Kommunismus in einem freundlich-nostalgischen Licht, das niemandem wehtun darf. Auch Jan Sveráks „Kolya“, 1996 mit dem Oscar für den besten fremdsprachigen Film ausgezeichnet, vermischt romantisch-verklärte Prager Postkartenbilder mit trägen TV-tauglichen Schauspielerleistungen, um bei möglichst vielen durch halb geschlossene Augen zu laufen.

Ähnlich wie 2003 „Želary“ von Ondrej Trojan, für den auch aus österreichischen Förderquellen Geld floss: Nazi-Zeit, eine Prager Widerstandskämpferin flüchtet in ländliche Idylle, um sich in einen grobschlächtigen, einsamen Bauern zu verlieben. Ein beschönigender Schulterklopffilm wie Franz Antels „Bockerer“-Serie: böse Deutsche, böse Russen, alle Tschechen lieb und im Widerstand gegen alles Böse. Heile Welt.

Hätte mir nicht vor kurzem ein Tscheche einen bitteren Witz erzählt, wäre alles halb so schlimm: „Was ist der Unterschied zwischen dem tschechischen Widerstand gegen die Nazis und einem Film darüber? – Der Film dauert eine halbe Stunde länger.“
Aber neben diesen erfolgreichen Populismusfilmen, traditionell kitschigen Märchenfilmen und immer weniger werdenden phantastischen Animationsfilmen gibt es auch noch anderes und andere wie Sasa Gedeon („Die Rückkehr des Idioten“) und Petr Želenka („Das Jahr des Teufels“), die im besten Sinn des cinéma d´auteur radikal eigensinnig ihre persönlichen Obsessionen verfilmen.

Eine schöne und auch vom Publikum honorierte Herausforderung an zu viele ihrer Kollegen, die sich dem „tantensicheren“ Kino verschrieben haben. Trotzdem wird wahrscheinlich noch viel Wasser die Moldau hinunterfließen müssen, bis sich jemand traut, den ersten selbstkritischen Film über die nationale Vergangenheit zu drehen. Zumindest ein vager Ansatz war in diesem Jahr mit dem Dokumentarfilm „Der tschechische Traum“ zu erkennen. Zwei junge Filmstudenten plakatierten in ganz Prag die Neueröffnung eines Supermarktes. Tausende kamen auf ein Feld außerhalb der Stadt zur Eröffnung, um nichts anderes als ein riesiges Plakat vorzufinden. Ein bitterbös-witziger Kommentar zum schnellen Wandel vom Kommunismus zum Konsumismus. Ein Anfang.



Otto Reiter wurde 1957 in Ostberlin geboren, studierte Film- und Theaterwissenschaft und ist seit 1981 freier Filmjournalist für „Screen International“, „Moving Pictures“, „Der Standard“, „Profil“, „Die Presse“, Ö1, „Falter“ u. a. Seit 1985 ist er zudem tätig als Programmkonsulent für Viennale, Österreichische Filmtage/Diagonale, Filmfestival Rotterdam, Berlinale, Filmfestival Göteborg, „Crossing Europe“ u. v. a.
erschienen im "Magazin für Kontakt d. Erste Bank Group", issue4
> Magazin, Issue4 > Überlebensstrategien in ehemals kommunistischen europäischen Filmlandschaften (Otto Reiter)- > Filmszene im ehemaligen Jugoslawien (Otto Reiter)- > Filmszene Slowakei (Otto Reiter)- > Über Béla Tarr, den einsamen Meister des ungarischen Kinos (Otto Reiter)- > Filmszene in Serbien und Kroatien (Otto Reiter)-